Reinhard Mey Wenn Ich Betrunken Bin

Wenn ich betrunken bin,
dann merkt man das nicht gleich
Mein Redefluss wird glatt
und meine Sprache blumenreich
Ich fang' nicht an zu nerven
und aus der Rolle zu fallen
Ich fang' nicht an zu labern,
zu krakeelen und zu lallen
Dann schwinden ganz allmählich
meine Gleichgewichtsstörungen
Der Nebel in mir lichtet sich,
ich red' mit Engelszungen
Dann find' ich all die Worte,
die mir fehlen, haargenau
Dann sprech' ich so schön
wie Dagmar Berghoff
einst in der Tagesschau
Und was ich sag',
hat Hand und Fuss
und Kopf und einen Sinn
Wenn ich betrunken bin

Wenn ich betrunken bin,
dann such' ich keinen Streit
Dann kommt mein bess'res Ich,
das alles versteht und verzeiht
Ich werde nicht beleidigend,
ich muss auch nicht rumpöbeln
Brauch' nicht zu grapschen
und wildfremde Leute zu vermöbeln
Dann wird der inn're Schweinehund
zur inn'ren Schweinehündin
Der dunkelste Abgrund in mir
zu lichtesten Abgründin
Dann bricht das Gute aus mir raus,
das sich schon lang aifstaut
Dann halt' ich auch die and're Backe hin,
wenn einer haut
Dann wird die Niete,
die mich vollquatscht,
doch noch ein Gewinn
Wenn ich betrunken bin

Wenn ich betrunken bin
dann merkst du nichts davon
Dann seh' nur ich den kleinen Mann
mit dem Akkordeon
Der spielt so überirdisch schön,
so rein rein und so kristallen
Da muss ich wie ein Schlosshund heul'n
und fast ins Koma fallen
Und dann seh' ich ein Rudel Fabeltiere
mich umringen
Ein Dutzend haar'ge Burschen,
die aus voller Kehle singen
'nen schleppend schleim'gen Schlager,
ja, tatsächlich, vor mir steh'n
Zwölf Yetis und brummen:
"Ich hab' Reinhold Messner geseh'n!"
Manchmal glaub' ich,
ich seh' zuviel,
manchmal glaub' ich, ich spinn'
Wenn ich betrunken bin

Wenn ich betrunken bin,
werd' ich aufklärerisch
Dann sitz' ich mit Admiral van Snyder
am selben Tisch
Mit Winterbottom, Pommeroy, Sir Toby,
und es kostet
Mich ein Lächeln zuzugeben,
dass mein Herzschrittmacher rostet
Dann geb' ich meine Unzulänglichkeiten zu vor allen:
Ja, seht mich an,
mir ist mein Soufflé zusammengefallen
Dann sprech' ich aus,
was keiner sich zu sagen traut:
Ich steh' gar nicht auf Sushi,
ja, ich hab' Orangenhaut
Und Grass kann ich nicht lesen!
Ja, das ist alles in mir drin
Wenn ich betrunken bin

Wenn ich betrunken bin,
dann werde ich ganz still
Dann schaue ich nach innen,
und da seh' ich, was ich will
Dann lächl' ich scheinbar grundlos,
und dann steh' ich kerzengrade
Die Erdenschwere an den Füssen
und spüre die Gnade:
Ich brauch',
um irgendwann beseelt
unter den Tisch zu sinken
Weil ich naturbetrunken bin,
überhauot nichts zu trinken
Vielleicht bin ich als Kind wie Obelix in Zaubertrank Hineingefallen,
und das hält jetzt vor,
ein Leben lang?
Vielleicht bin ich in Wirklichkeit
stocknüchtern in mir drin
Wenn ich betrunken bin

Wenn ich betrunken bin