Reinhard Mey Ikarus

Weiße Schluchten, Berg und Tal,
Federwolken ohne Zahl,
Fabelwesen zieh'n vor den Fenstern vorbei.
Schleier wie aus Engelshaar
schmiegen sich beinahe greifbar
um die Flügelenden und reißen entzwei.

Manchmal frag' ich mich,
was ist es eigentlich,
das mich drängt aufzusteigen
und dort oben meine Kreise zu zieh'n?
Vielleicht, um über alle Grenzen zu geh'n,
vielleicht um über den Horizont
hinaus zu seh'n und viellicht,
um wie Ikarus
aus Gefangenschaft zu flieh'n.

Hagelschauer prasseln grell
und ein Böenkarussel
packt das Leitwerk hart
mit unsichtbarer Hand.
Wolkenspiel erstarrt zu Eis,
Ziffern leuchten grünlich weiß,
weisen mir den Weg,
durchs Dunkel über Land.

Manchmal frag' ich mich,
was ist es eigentlich,
das mich drängt aufzusteigen
und dort oben meine Kreise zu zieh'n?
Vielleicht, um über alle Grenzen zu geh'n,
vielleicht um über den Horizont
hinaus zu seh'n
und viellicht,
um wie Ikarus aus
Gefangenschaft zu flieh'n.

Städte in diesiger Sicht,
Felder im Nachmittagslicht,
Flüsse zieh'n silberne Adern
durch den Plan,
schweben in seidener Luft,
im Landeanflug der Duft
von frisch gemähtem Heu
um die Asphaltbahn.

Manchmal frag' ich mich,
was ist es eigentlich,
das mich drängt aufzusteigen
und dort oben meine Kreise zu zieh'n?
Vielleicht, um über alle Grenzen zu geh'n,
vielleicht um über den Horizont
hinaus zu seh'n
und viellicht,
um wie Ikarus aus
Gefangenschaft zu flieh'n.