Reinhard Mey Das Lied von der Spieluhr

Sie schenkte mir, ich weiß nicht mehr in welchem Jahr
Und kann beim besten Willen heute nicht mehr sagen,
Ob‘s zu Weihnachten oder zum Geburtstag war,
Ein Kästchen in buntes Papier eingeschlagen,
Ein Kästchen, rot und schwarz lackiert,
Ins Holz mein Name eingraviert.
Manschettenknöpfe, dacht‘ ich, doch dann
Fing das Kästchen zu spielen an.

Es spielte keinen Ton von stiller Weihnachtszeit,
Wie man‘s von einer Spieluhr wohl erwarten könnte.
Es war auch nicht „Üb‘ immer Treu‘ und Redlichkeit“,
Nur eine Melodie, die in den Ohren tönte.
Ein Lied, das einem, unbekannt,
Bekannt vorkommt, von dem man ahnt,
Daß, wie man ihm auch widersteht,
Es nicht mehr aus den Ohren geht.

So stand die Spieluhr lange Zeit auf dem Kamin
Und immer, wenn sie spielte, mußt‘ ich daran denken,
Daß diese Spieluhr wie geschaffen dafür schien,
Sie mir zum Abschied als Erinnerung zu schenken.
Verließe sie mich irgendwann,
Ging mit ihr all mein Glück, und dann
Blieb mir, so stellte ich mir vor,
Von allem nur dies Lied im Ohr.

Das Kästchen ist verstummt und dient nur noch zur Zier,
Und um verlor‘ne Knöpfe darin zu bewahren;
Die Feder ist vom Spielen müd‘, so scheint es mir,
Das Uhrwerk starb an Altersschwäche vor zwei Jahren.
Doch sie, die mir die Uhr geschenkt,
Liebt mich noch heute wie einst, bedenkt:
Das heißt, daß es noch Liebe gibt,
Die eine Spieluhr „überliebt“.